Der Franzose hat die Konkurrenten über 400m Lagen fast lächerlich gemacht. Doch nun versucht er etwas, das noch kein Mensch geschafft hat: das Double über Delfin und Brust.
Remo Geisser, Paris
5 min
Wieso schwimmen Menschen eigentlich über Wasser? Damit sie nicht ertrinken, klar. Aber im Wettkampfsport muss man diese Frage differenzierter betrachten. Findige Köpfe merkten nämlich bald einmal, dass auch der Mensch unter Wasser schneller ist. Das führte zu bizarren Bildern, zum Beispiel in den späten 1980er Jahren, als die besten Rückenschwimmer nach dem Start wie Fische dahinschossen, um erst kurz vor der Wende aufzutauchen.
Das kann gefährlich sein, ist aber vor allem auch langweilig für die Zuschauer, die auf eine Wasserfläche starren, bis irgendwann ein Kopf auftaucht. Der Weltverband passte seine Regeln sukzessive an, seit 1998 gilt für alle Disziplinen: Nach dem Start und dem Wenden darf die Tauchphase maximal 15 Meter betragen.
Die Schwimmer begannen sofort, diese Phase zu perfektionieren. Unter Wasser führen sie mit dem ganzen Körper eine Wellenbewegung durch, die Beine peitschen das Wasser wie ein Fischschwanz. Michael Phelps beherrschte das wie kein anderer, die Unterwasserphase war entscheidend bei seinen 23 Olympiasiegen und 32 Weltrekorden. Bis der Franzose Léon Marchand es noch besser machte.
Wer kann die Luft am längsten anhalten? Der Olympiafinal 1988 über 100m Rücken.
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Beim Coach, der Michael Phelps geformt hat
Frankreichs neuer Wassermann reizt die 15 Meter so weit aus, bis ihm fast die Lunge platzt. Die Sportzeitung «L’Équipe» erhielt nach dem Final über 400m Lagen Daten von der wissenschaftlichen Abteilung des französischen Schwimmverbandes: Marchand hatte mehr als einen Viertel der Strecke unter Wasser zurückgelegt: 102,89m. Im Vergleich zum Vorjahr, als er an den WM in f*ckuoka Weltrekord schwamm, war das eine Steigerung um 2,27m. Ausserdem soll der Franzose die Effizienz seiner Armzüge um 10cm pro Zug gesteigert haben.
Es sind solche Details, die Marchand weit, weit vom Rest der Welt abheben. Das lange Lagenrennen, die brutalste Disziplin des Schwimmsports, gewann er mit fast 6 Sekunden Vorsprung. 2023 hatte er den 20-jährigen, als unantastbar geltenden Weltrekord von Phelps um 1,3 Sekunden auf 4:02,50 gesenkt. Der Amerikaner überreichte ihm danach WM-Gold und sagte: «Er kann unter 4 Minuten bleiben.»
Marchand würde damit eine Schallmauer durchbrechen. Und auch wenn er noch 2,5 Sekunden davon entfernt ist, sind sich die Experten einig, dass der grosse Moment nicht allzu weit entfernt ist. Sie stützen sich dabei auch auf Aussagen des Mannes, der den Franzosen trainiert. «Er hat in allen vier Lagen noch enormes Potenzial», sagte dieser 2023 nach dem Weltrekord.
Dieser Coach ist nicht irgendwer, er ist die beste Referenz, die es in diesem Sport gibt. Bob Bowman hat Michael Phelps geformt, den Mann, der die Grenzen des Schwimmens in neue Dimensionen verschob. Und er hat Léon Marchand zu seinem neuen Projekt erklärt. Natürlich trainiert er in Austin, Texas, noch andere Schwimmer mit grossen Ambitionen. Aber er hat die Gruppe so zusammengestellt, dass sie den Franzosen zu immer neuen Höchstleistungen pusht.
Und dieser braucht die Gruppe. «L’Équipe» hat Marchand im Training besucht. «Allein würde ich das nicht aushalten», sagte Marchand dem Reporter. Denn Bowman gilt zwar als umgänglich, kann am Beckenrand aber ein harter Hund sein. Sein französischer Schützling erzählt dazu ein Müsterchen. An einem Samstagmorgen sei Bowman ins Training gekommen und habe gesagt, er sei nachts um zwei aufgewacht und habe die Idee für ein Training gehabt, das er «crazy eight» taufe.
Das Programm: 8×100m; 8×75m; 8×50m; 8×25m. Alles Vollgas. Nach dem Training hätten die Athleten zum Coach gesagt, er habe wohl zu wenig überlegt, das sei viel zu hart. Danach gab es das alle zwei oder drei Wochen. Marchands Fazit: «Irgendwann gewöhnt man sich an alles.» Bowman lobt gerade diese Anpassungsfähigkeit des Franzosen. «Ich hatte nie zuvor einen Athleten, der so einfach zu trainieren war.»
Das ist vor allem eine Frage des Charakters. Marchand scheint man dazu aber auch das Talent in die Wiege gelegt zu haben. Sein Vater Xavier Marchand und seine Mutter Céline Bonnet waren beide Olympiateilnehmer, sein Onkel Christophe schaffte es immerhin an die EM. Und alle drei waren Lagenschwimmer. Die Eltern sagen allerdings, sie hätten ihren Sohn nie dazu gedrängt, diesen Sport auszuüben. Denn sie wussten, wie viel das Schwimmen einem Menschen abverlangen kann.
Er hörte mit dem Schwimmen auf, weil ihm das Wasser zu kalt war
Hinzu kommt, dass Léon Marchand als Kind eher schmächtig war, und er wirkt noch heute fast wie ein Schulbub, wenn er bei den Startvorbereitungen neben den Hünen steht, die seine Sportart prägen. Seine Anfänge waren denn auch schwierig. Marchand lernte zwar früh schwimmen, hörte aber mit sieben Jahren wieder damit auf, weil es ihm nicht gefiel im kalten Wasser. Erst zwei Jahre später begann er, wettkampfmässig zu trainieren.
Marchand war damals ein schüchterner Bub, der nicht besonders auffiel, auch nicht mit seinen Leistungen. Irgendwann sei er in seiner Heimatstadt einmal 400m Lagen geschwommen. «Ich brauchte etwa 5:10 Minuten», sagte er französischen Journalisten. Seine Mutter habe daraufhin gesagt, das bringe nichts. «Am nächsten Tag war ich 15 Sekunden schneller.»
Was Marchand zum perfekten Lagenschwimmer macht, ist seine unglaubliche Vielseitigkeit. Diese spiegelt sich auch in seinem Wettkampfprogramm in Paris. Der Franzose tritt unter anderem in zwei Einzeldisziplinen an, die sich eigentlich widersprechen: Delfin und Brust. Letzteres ist technisch so anspruchsvoll, dass es eigentlich nur reine Spezialisten gut beherrschen. Delfin, Rücken, Crawl – es gibt viele Athleten, die das alles können. Aber Brustschwimmer sind Brustschwimmer.
Marchand hingegen kann alles. Und so hat er für Paris eine Herausforderung gewählt, die eines olympischen Helden würdig ist. Er schwimmt die 200m Delfin und die 200m Brust, die beide am gleichen Tag ausgetragen werden. Das ist etwa so, also würde ein Leichtathlet an einem Abend im 400-m-Lauf und im Diskuswerfen Olympiasieger werden wollen.
Ausnahmeathleten streben das Unvorstellbare an, das weiss wohl keiner so gut wie Bob Bowman. Michael Phelps war in seinen besten Jahren so gut, dass er sich irgendwann zum Ziel setzte, das Geschichtsbuch des Schwimmens neu zu schreiben. Mark Spitz hatte 1972 sagenhafte sieben Goldmedaillen gewonnen, Phelps übertraf das 2008 und liess sich achtmal Gold umhängen.
Drei dieser Siege errang er als Mitglied von US-Staffeln. Und dadurch sind Marchand Grenzen gesetzt, denn die französischen Schwimmer sind nicht stark genug, um auch noch in mehreren Staffeln abzuräumen. Will er selbst ein Kapitel Geschichte schreiben, muss ihm dies als Einzelathlet gelingen. Er kann das, und er wird dabei von einem Publikum getragen, wie man es noch nie erlebt hat. 17000 Zuschauer verwandeln die Schwimmhalle jedes Mal in ein Tollhaus, wenn Léon Marchand zum Startblock schreitet.
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